Ein internationaler Vergleich
Beim Thema Stahl, ist es ungeachtet des Kontexts kaum möglich, Deutschland dabei außenvor zu lassen. Denn egal, ob im weltweiten oder europäischen Vergleich der Produktionszahlen, bei der Entwicklung, den Produktionsmethoden und bei noch weiteren Bereichen: „German Steel“ ist nach wie vor und trotz aller Widrigkeiten eine bedeutende Konstante in der Stahlwelt.
Selbst 2023, als die Produktion aus verschiedenen Gründen ein historisch niedriges Niveau erreichte, entstanden hierzulande immer noch 35,4 Millionen Tonnen Rohstahl – beim europäischen Zweitplatzierten, Italien, waren es 21 Millionen Tonnen. Damit war Deutschland sogar in diesem schlechten Jahr für knapp 30 Prozent der EU-Produktion verantwortlich.
Zudem genießt Stahl made in Germany weltweit nach wie vor einen exzellenten Ruf. Grund dafür ist nicht zuletzt eine historisch recht einzigartige Herangehensweise, bei der der hiesige Stahlstandort gleich mehrfach tiefgreifende Transformationen erlebte.
Von Anfang an dabei: Industrialisierte Stahlherstellung in Deutschland
Seitdem in Europa die ersten Stahlherstellungsmethoden Einzug hielten, war das Gebiet des heutigen Deutschlands immer ganz vorn mit dabei. Das gilt auch, wenn wir nur auf die industrielle Stahlfertigung blicken. Zwar gilt Großbritannien als Wiege der Industrialisierung im Allgemeinen und der Stahl-Industrialisierung im Besonderen. Das noch bis zur Reichsgründung 1871 bestehende Geflecht aus Kleinstaaten unter preußischer Führung wurde jedoch ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem der größten Konkurrenten der Briten, um gegen Ende der 1800er zu Europas Stahlgigant zu werden.
Dabei war das Wachstum der Produktionsmengen in der Gesamtheit der damaligen deutschen Staaten wirklich beeindruckend:
- 1850: 0,2 Mio. t
- 1885: 1,0 Mio. t
- 1905: 10 Mio. t
- 1918: 19 Mio. t
Das mag zwar verglichen mit jenen 35,4 Millionen Tonnen aus dem Jahr 2023 nicht viel wirken. Einerseits ist jedoch gerade die extreme Steigerung bemerkenswert. Zudem wurden die damaligen Mengen mit im Vergleich zu heute archaischen Produktionsmethoden generiert.
Definitiv legte dieser Erfolg während der Industrialisierung den Grundstein, um Deutschland zu einem bis heute erfolgreichen und bedeutenden Stahlproduzenten zu machen.
Deutschlands Weg als Stahlproduzent bis in die Gegenwart
Im Verlauf der Industrialisierung gab es für verschiedene Länder vergleichbare Chancen, zu den „Big Playern“ der Stahlproduktion zu werden. Manche Nationen ergriffen sie, viele verloren jedoch den Status im Lauf der Jahrzehnte. Interessant ist dabei, dass Deutschland zu den wenigen Staaten gehört, die ihren Status als wichtiger Produzent praktisch über die gesamte Zeit beibehalten konnten. Vergleichen wir dazu die zehn wichtigsten Stahl-Nationen der Jahre 1900 und 2023:
Die Top-10 der Stahlproduzenten im Wandel der Zeit | ||
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1900 | 2023 | |
1 | USA | China |
2 | Deutsches Reich | Indien |
3 | Großbritannien | Japan |
4 | Frankreich | USA |
5 | Belgien | Russland |
6 | Russisches Reich | Süd-Korea |
7 | Österreich-Ungarn | Deutschland |
8 | Schweden | Türkei |
9 | Italien | Brasilien |
10 | Japan | Iran |
Interessant ist hier, dass Japan 1900 gerade erst dabei war, zu einem expandierenden Stahlproduzenten zu werden.
Warum Deutschland bereits früh und bis heute eine so große Rolle spielt, begründet sich in mehreren Faktoren:
- Ressourcen: Das Deutsche Reich verfügte mit Ruhr, Saar und Oberschlesien über gleich drei sehr große (Stein-)Kohlereviere, dazu noch mehrere kleinere Reviere. Dadurch konnte sogar der relativ geringe einheimische Anteil an Eisen- und anderen für die Stahlproduktion wichtigen Erzlagerstätten ausgeglichen werden.
- Eisenbahn: Deutschland setzte auf die Bahn und förderte den Ausbau. Das sorgte einerseits für eine gute Transportinfrastruktur und andererseits wirkte es sich positiv auf Bergbau und Metallproduktion aus.
- Konzerne: Das Deutsche Reich ermöglichte die Bildung leistungsfähiger Mischkonzerne wie etwa Krupp, Thyssen und Gutehoffnungshütte, die verschiedene Schritte der Stahlfertigung und -verarbeitung vertikal integrierten und dadurch sehr ökonomisch arbeiteten.
- Querverbundene Schlüsselindustrien: Von Anfang an stärkte das Land verschiedene weitere Industrien, die mit der Stahlherstellung verbunden waren. Ähnlich wie bei der Eisenbahn im 19. Jahrhundert gab es deshalb über lange Zeit eine gute Integration mit einem einheimischen Markt.
- Modernisierung: Im Zweiten Weltkrieg wurde Deutschlands Stahlproduktion umfassend beschädigt und danach durch Reparationsleistungen weiter vermindert. Das erzwang eine Modernisierung, wodurch insbesondere West-Deutschland ab den 1950er Jahren starke Wettbewerbsvorteile generieren konnte.
- Optimierung & Spezialisierung: Während ab etwa den 1970ern viele andere „Alt-Produzenten“ Stahl nicht mehr wirtschaftlich fertigen konnten, investierte Deutschland stark in effizientere Produktionsmethoden sowie veränderte Schwerpunkte. Dadurch wandelte das Land sich bis zu den 1990ern und 2000ern von einem Massenstahlhersteller zu einem Spezialisten für seltener nachgefragte, jedoch für Hochleistungsanwendungen unverzichtbare Speziallegierungen.
Die Rolle der Politik darf dabei nicht vernachlässigt werden: Schon vor der Reichsgründung konnten deutsche Stahlhersteller stets auf eine zumindest wohlwollende Politik vertrauen. Dies änderte sich über die verschiedenen deutschen Staatsformen nur wenig. Zudem konnte die hiesige Stahlindustrie im späten 19. Jahrhundert durch Schutzzölle vor britischer und US-amerikanischer Konkurrenz bewahrt werden.
Nicht zuletzt bewies der andauernde politische Support seinen Wert während der Stahlkrise(n) im Verlauf der 1970er und 1980er. Bei den früheren Stahlgrößen Großbritannien, Frankreich und Belgien blieb eine ähnliche Unterstützung aus. Zwar bekam auch Deutschland die Folgen dieser Krise deutlich zu spüren – dank politischer Unterstützung überlebte die Industrie jedoch. In verschiedenen anderen Ländern verlor dieser Wirtschaftszweig hingegen massiv an Bedeutung und sie konnten nie wieder an den früheren Marktanteil anknüpfen.
Exkurs: Die Stahlkrise der 1970er
Im Verlauf der 1970er Jahre kam es zu einer dramatischen Strukturkrise in vielen stahlproduzierenden Industrienationen. Die Gründe dafür lagen in
- einem Ende des Nachkriegs-Wirtschaftsbooms,
- weiterhin hohen Produktionsmengen in den traditionellen Stahlnationen,
- neu hinzukommenden Playern wie Brasilien und Indien,
- durch die Ölpreiskrise stark gestiegenen Energiekosten und
- davon ausgelösten Überproduktionen und Verdrängungswettbewerben.
Infolgedessen entstanden vielerorts unüberwindbare Standortnachteile. In West-Deutschland führte das zu zahlreichen Hüttenschließungen. Gleichzeitig schützte die Bundesregierung den Stahlstandort erneut gegen ausländische (insbesondere überseeische) Konkurrenz. Die Konzerne nutzten diese Gelegenheit, um ihre Produktion effizienter aufzustellen – wobei dies vielfach auch Entlassungen bedeutete.
Nicht zuletzt halfen West-Deutschlands starke Automobil- und Maschinenbauindustrie sowie die Anbindung an die EG (Vorläufer der EU) dabei, die Nachfrage nach deutschem Stahl aufrechtzuerhalten und so den Standort vor dem Kollaps zu bewahren.
Obwohl Deutschland diese Krise besser meisterte als andere Staaten, setzte dennoch in ihrem Zuge ein massiver Wandel für den Stahlstandort ein. Dieser wurde noch weiter angefeuert, als es ebenfalls ab den 1970er Jahren zu einer großen deutschen Werftenkrise kam, die bis in die 1990er anhielt. In diesen etwa 15 Jahren steigerten Japan und Süd-Korea ihre Marktanteile bei der Schiffproduktion durch niedrigere Preise bei vergleichbarer Qualität.
Zugleich reduzierte sich die globale Nachfrage nach neuen Schiffen. Der Konkurs der Bremer Rolandwerft 1972, die Schließung der AG-Weser-Werft 1978, das Ende der Büsumer Werft 1986 sowie der Untergang der Vulkan-Werft 1996 führte zu einer deutlichen Reduzierung einheimischer Abnehmer für deutsche (Massen-)Stähle.
Marktkonkurrent China: Spannende Entwicklung
1978 befand sich China in einer Transformationsphase nach Maos Tod. Unter anderem legte das Land dabei das Programm der „Vier Modernisierungen“ auf. Einer der Ansätze war das allmähliche Etablieren einer Stahlindustrie, die nicht nur im Rahmen des eigenen Landes funktionierte, sondern weltmarktfähig war.
Bereits zu Lebzeiten hatte Mao versucht, eine einheimische Schwerindustrie aus dem Boden zu stampfen – basierend auf unzähligen kleineren, dezentralen Standorten. Die Strategie scheiterte jedoch aus mehreren Gründen:
- Nutzung vorindustrieller Methoden (kleinere Öfen) mit denen sich kein hochwertiger Stahl produzieren lässt.
- Unrealistisch hohe Zielvorgaben, die aufgrund mangelnder Ressourcen nicht erreicht werden konnten.
- Fachliche Mängel führten zu hohen Ausschussraten.
Die „Vier Modernisierungen“ sollten es anders machen. Infolgedessen entwickelte sich China in den darauffolgenden 30 Jahren tatsächlich zu einem Stahlproduzenten, der in Sachen Masse alles bislang Dagewesene in den Schatten stellte – nicht zuletzt dank starker westlicher Unterstützung.
Chinas Aufstieg als Stahlproduzent (Produktion in Millionen Tonnen) |
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Jahr | Weltproduktion | China | Deutschland |
1990 | 440 | 66 | 42 |
2006 | 1.200 | 420 | 47,2 |
2023 | 1.892 | 1.019 | 35,4 |
China allein produzierte 2023 also fast das Zweieinhalbfache im Vergleich zur Weltstahlproduktion 1990. Ein zentraler Grund dafür ist eine überlegene Rohstoffsituation. China findet praktisch alles Nötige im eigenen Land. Allerdings soll das Deutschlands Beitrag keineswegs schmälern. Vielmehr ist erstaunlich, dass die Bundesrepublik trotz einer solchen Konkurrenz (zu der u. a. Indien und viele andere Staaten hinzukommen) noch eine vergleichsweise gesunde Stahlindustrie und -produktion vorweisen kann.
Stahlproduktion in Deutschland heute: Spezialisierung als Marktvorteil
Der Grund liegt in einem weiteren Transformationsprozess: Deutschlands Stahlindustrie (zusammen mit den noch verbliebenen anderen europäischen Herstellern) gelang es seit den 1990ern, einen enormen Wandel zu stemmen. Weg vom aussichtslos gewordenen Versuch, mit Masse dagegenzuhalten, hin zu einer Industrie, die dank ihrer Erfahrung und des allgemeinen metallurgischen Backgrounds des Landes das liefern kann, was die anderen Stahlgiganten nicht können: hochwertige Legierungen.
Der deutsche Stahlstandort ist deshalb seit etwa 20 Jahren im besten Sinn nach der Devise „Klasse statt Masse“ aufgestellt. Dazu zählen etwa Stahlprodukte, die nicht in großen Mengen nachgefragt werden, beispielsweise simple Bau- und Konstruktionsstähle. Der Schwerpunkt wurde stattdessen auf Stahlerzeugnisse gelegt, die ein hohes Maß an Know-how im Bereich Metallurgie und Veredelung voraussetzen.
Das Grundmaterial für typische Gitterstahlmatten für Betonfundamente stammt heute mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Werk in der Volksrepublik oder Indien. Geht es hingegen um hochwertigen Edelstahl für chirurgische Instrumente oder eine Sonderlegierung für stark beanspruchte Verdichterschaufeln in einem Düsentriebwerk, dann punkten die Stahlerzeugnisse made in Germany.
Der Stahlstandort Deutschland in der Zukunft
Die Zeit steht nicht still – Ansprüche verändern sich ebenso wie Märkte. Zudem kommt mit jeder produzierten Tonne Stahl, mit jedem Tag mehr Wissen hinzu. Es wäre deshalb falsch, anzunehmen, Deutschland könne sich unbesorgt auf seinem Status als Hersteller hochwertiger Stähle ausruhen. Auch Länder wie China versuchen mit spezialisierten Stahlprodukten ebenfalls Marktanteile zu gewinnen und weniger abhängig von Importen werden.
Derzeit steht Deutschland daher vor einer herausfordernden Zukunft:
- Es muss gelingen, die zunehmend strenger werdenden CO2-Grenzwerte der EU Angesichts dieser unverrückbaren Ziele kann in Deutschland produzierter Stahl mittelfristig praktisch nur über die sogenannte Wasserstoffroute hergestellt werden. Jedoch bedingt das aufgrund der nötigen Versorgung und Infrastruktur Anstrengungen, die nicht allein in der Hand der Industrie liegen – sondern auch bei der Politik. Das ist die derzeit wohl schwierigste Herausforderung.
- Bei der Stahlproduktion sind hohe Temperaturen mit entsprechenden Energiemengen nötig. Selbst wenn die Herstellung von Stahl in Deutschland künftig grüner Wasserstoff eingesetzt wird, braucht es für das Aufschmelzen des dabei entstehenden Eisenschwamms zumindest elektrisch betriebene Lichtbogenöfen. Der dafür notwendige Strom muss zwingend grün und gleichzeitig günstig sein.
- Trotz der Kosten des Umbaus muss Stahl aus Deutschland weiterhin zu wirtschaftlichen Preisen produziert werden können, damit er am Weltmarkt konkurrenzfähig bleibt.
- Es muss gelingen, gegenüber China, Indien und anderen Staaten beim Know-how zur Stahlproduktion dennoch an der Spitze zu bleiben. Ob dies weiterhin der Bereich einer hohen Qualität ist oder garantierte Klimaneutralität, ist fast nachrangig, solange der Wissensvorsprung unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten funktioniert.
Die mittelfristige Zukunft von deutschem Stahl steht deshalb zumindest vor schwierigeren Verhältnissen als in den zurückliegenden 20 Jahren. Dabei ist vor allem Eile geboten, denn allmählich wird für die Industrie der Boden dünn. So kündigte der neue Chef der Stahl-Sparte von Thyssenkrupp Steel, Dennis Grimm, erst kürzlich tiefgreifende Sanierungsmaßnahmen an.
Nicht zuletzt die allgemein derzeit schwache deutsche Konjunktur dürfte dafür mitverantwortlich sein. Die hohen Investitionen in den Umbau hin zu einer nachhaltigeren und ressourcenschonenderen Stahlproduktion können sich langfristig auszahlen. Sie machen den Stahlstandort Deutschland vor allem unabhängiger vom Faktor Energie. Gerade hier kann es ein Vorteil sein, weniger von Schwankungen und Abhängigkeiten vom Weltmarkt betroffen zu sein.
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